Unsere Identität ist nichts stabiles, sie entwickelt sich ständig weiter

 Rezension 

"Fräulein Gold: Scheunenkinder" von Anne Stern 

 

Die Berliner Hebamme Hulda Gold hat nach den Ereignissen aus Band 1, als sie nach und nach einem Serienmörder auf die Schliche gekommen ist, kaum Zeit, sich auszuruhen. Immer öfters erlebt sie durchwachte Nächte und hat es mit komplizierten Fällen zu tun, die ihre vollkommene Aufmerksamkeit bei ihren Wöchnerinnen erfordert. Immerhin sitzt ihr Dr. Schneider im Nacken, der nur darauf wartet, dass sie einen Behandlungsfehler macht. Einer dieser Fälle führt sie ins Scheunenviertel. Dort soll sie einer jüdischen Frau bei der Geburt helfen. Zunächst wirkt alles normal und die Geburt verläuft ohne Komplikationen. Als das Neugeborene jedoch ein paar Tage später spurlos verschwindet, macht sich Hulda auf dessen Suche und stößt dabei auf großen Widerstand. Kann Hulda das Kind wieder mit seiner Mutter vereinen?  

Auch dieses Mal konnte mich das Buch rund um die Hebamme Hulda Gold begeistern. Ich empfand diesen Band fast noch besser als den ersten Band. Zum einen deswegen, da man Hulda und ihre Welt schon kannte. Es musste nicht mehr viel erklärt werden. Wenn es Anne Stern auch versteht, die Geschehnisse von Band 1 zusammen mit der politischen Lage im Jahre 1923 meisterlich in die Geschichte einzuweben, ohne dass man sich großartig davon gestört fühlt. Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit, mehr auf die inneren Einstellungen von Hulda Gold einzugehen, bis hin zu der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität.

Genau diese Identitätsfindung fand ich mit am spannendsten. Im Laufe der Geschichte lernt Hulda eine jüdische Familie kennen, die sich streng an die Regeln und Traditionen des jüdischen Glaubens halten. Hulda als Halb-Jüdin, die nie in diesem Glauben erzogen worden ist, tut sich zunächst schwer Anschluss in diese Gemeinschaft zu finden, ist aber zusehends faszinierter von dieser Welt. Dies liegt vor allem an Rabbiner Esra. Schon von Beginn an fühlt sie sich auf eine merkwürdige Weise zu ihm hingezogen. Allerdings wird nicht nur ihre Glaubenswelt auf den Kopf gestellt. Ebenso muss sie sich mit der Beziehung zu ihrem Vater auseinandersetzen und ihrem Problem mit Nähe.

Generell habe ich zu jeder Zeit Hulda nachempfinden können, warum sie so handelt, wie sie handelt. Für mich ist Hulda immer noch eine starke, unabhängige Frau, die leider zu einer Zeit geboren ist, die nicht viele Möglichkeiten für Frauen vorgesehen hatte. Zu gerne hätte sie ein Medizinstudium absolviert, aber Frauen war zu dieser Zeit ein Studium nicht gestattet. Sie brennt für ihren Job als Hebamme und geht darin auf, für ihre Wöchnerinnen da zu sein, auch wenn es heißt, dass sie sich wieder in Gefahr begeben muss. Für eine Ehe mit Kindern scheint einfach kein Platz zu sein, da sie dann wahrscheinlich auch ihren Job aufgeben muss. Genau diesen Zwiespalt finde ich klasse dargestellt, da es Hulda auch nicht vollkommen egal ist, dass sie schon 28 Jahre ist und unverheiratet. Sie möchte ja eine richtige Beziehung mit Karl führen, hat aber Angst vor den Konsequenzen. Wahrlich keine einfache Entscheidung!

Zudem fand ich es auch gelungen, wie die geschichtlichen Ereignisse mit den Erlebnissen von Hulda verflochten worden sind. Hulda findet sich eines Tages z.B. mitten in dem Pogrom von 1923 wieder und erlebt hautnah, wie der Judenhass sich auf die Bevölkerung des Scheunenviertels entlädt. Zudem erlebt sie tagtäglich die Auswirkungen der Inflation und wie die Bevölkerung darunter leidet.

Demnach kann ich jedem dieses Buch empfehlen, der gerne historische Romane liest und sich von einer Zeit gefangen nehmen lassen will, die für viele Menschen der Anfang einer beunruhigenden Zeit bedeutet hat.

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